Die Atemstütze
Der klassische Ansatz in der Gesangsausbildung ist die oft recht vage Beschreibung der Atemtechnik während des Singens und Sprechens, gefolgt von Artikulationsübungen (Barbara saß nah am Abhang ...). Immer wieder hört man Klagen, wie - nach drei Jahren bin ich endlich draufgekommen, was die Atemstütze ist. Fragt man genauer nach, erhält man in der Regel wieder recht vage Auskunft. Bei vielen Sängern und Bläsern stellt sich eine richtige Atemtechnik irgendwann ein, sie können sie jedoch nicht genau beschreiben.
Diese anscheinend so geheimnisvolle Atemtechnik ist in fünf Minuten erklärt, nach längstens einer halben Stunde (bei ganz hartnäckigen Fällen) ist jedermann klargemacht, worum es geht, hat jeder schon gespürt, worauf es ankommt. Wie kann das sein? Der Beweis liegt auf der Hand. Die Atemstütze ist keine gymnastische Übung, die man erlernen muss, sie ist eine alltägliche Atembewegung, die jeder von uns unbewusst den ganzen Tag über anwendet.
Testen Sie sich selbst: Fassen Sie sich mit den Fingerspitzen in die Seite gleich über dem Hüftbein und husten Sie einmal. Haben Sie eine Bewegung gespürt? Lachen Sie, weinen Sie, pfeifen Sie, spucken Sie. Sie werden immer die gleiche Bewegung spüren - das Zwerchfell drückt die äußeren schrägen Bauchmuskeln nach außen.
Da für jeden Konsonanten ein eigener Druck aufgebaut werden muss, federt das Zwerchfell beim Sprechen unentwegt hin und her. Durch Unsicherheit, Schüchternheit, Angstgefühle verringert sich die Frequenz dieser Bewegungen.
Testen Sie sich selbst: Sagen Sie einen Satz und testen Sie wieder an der gleichen Stelle, wie beim Husten. Spüren Sie Bewegungen, wie klar sind sie?
Sollten Sie dieses Federn des Zwerchfelles auch nur wenig spüren, haben Sie dennoch wieder den ersten Schritt getan - Ihren Ist-Zustand erfasst. Wenn es etwas zu verbessern gibt, können Sie das Schritt für Schritt tun.
Wenn hier nachdrücklich zur Selbstkontrolle diese Handhaltung empfohlen wird, geschieht das nicht, weil die andere, die die Seite zwischen Daumen und Zeigefinger einschließt, nicht bequemer ist. Die hier als falsch dargestellte Möglichkeit führt sie in die Irre. Sie spüren am genauesten nicht mehr die Bewegungen Ihrer Flanken, sondern jene der Bauchdecke.  Oft wird, wie eben auch in den oben erwähnten ungenauen Anweisungen, erklärt, während der Tongebung gehe der Bauch heraus. Das Zwerchfell drückt bei der Atemstütze primär nach der Seite, in der Folge weitet sich sekundär auch der Bauch nach vorne.
Das Zwerchfell muss jedoch hin- und herfedern. Drücke ich dagegen den Bauch heraus, werden die Flanken in eine hohe Spannung versetzt und damit in ihrer Bewegungsmöglichkeit stark eingeschränkt - eine effiziente Atemstütze ist nicht möglich.

Für dieses Mißverständnis gibt es zwei mögliche Gründe - eine ungenaue Beobachtung des physiologischen Vorganges oder ein grundsätzliches Verwechseln verschiedener Atemtechniken. Unter Atemtechnik sind hier natürliche Methoden der Atmung zu verstehen, die der Körper automatisch in verschiedenen Situationen anwendet. Es ist immer wieder die Rede davon, dass die Bauchatmung zu verbessern ist. Das ist auch vollkommen richtig, solange damit die Ruheatmung gemeint ist. In entspanntem Zustand, wie beim Schlafen oder während verschiedener Entspannungsübungen reicht die Bauchatmung vollkommen aus. Das Zwerchfell drückt nach unten, weitet damit die Lungen, diese saugen Luft an.
Testen Sie sich selbst: Setzen Sie sich aufrecht-entspannt hin, lassen Sie ihr Gewicht nach unten fließen. Spüren Sie, wie sich die Bauchdecke hebt und senkt. Ihre Atmung sollte jetzt ohne Beteiligung der Brust funktionieren. Haben Sie nun die Passivität der Brust und die Bewegung der Bauchdecke gut wahrgenommen, spielen Sie einmal Weinen. Wie verhalten sich Brustkorb und Zwerchfell jetzt?
In der Form der Aktivitätsatmung, die uns speziell für die Stimmgebung interessiert ist auch die Zwischenrippenmuskulatur beteiligt. Sie weitet den Brustkorb, dadurch werden jetzt die Lungen gedehnt um Luft anzusaugen. Während sich der Brustkorb hebt, entspannt sich der Flankenbereich. Senkt sich der Brustkorb, drückt das Zwerchfell nach unten - die erwähnte paradoxe Einatmungsbewegung - diesmal nicht zur Einatmung, sondern vielmehr um den Luftstrom während der Ausatmungsphase zu kontrollieren. Bei Aktionen, die größere Kraftanstrengung erfordern, findet sich immer wieder diese Atmungsform. Die größte Kraft und Stabilität haben wir während der Ausatmungsphase. Nehmen Sie zum Beweis einen Stemmer. Er läßt einen kleinen Schrei aus, während er das Gewicht nach oben stößt.
Testen Sie sich selbst: Im Alltag ergeben sich immer wieder Gelegenheiten, unsere Erkenntnisse zu überprüfen und anzuwenden. Immer wieder gibt es zum Beispiel Schraubdeckel zu öffnen. Probieren Sie, den Deckel während der Einatmung aufzubekommen, dann während der Ausatmung. Wenn es noch immer nicht geht, nehmen Sie ein Werkzeug. Oder: beobachten Sie sich, wenn Sie etwas schweres heben. In jedem Fall werden Sie feststellen, dass Sie die Kraftanstrengung automatisch während der Ausatmungsphase durchführen werden. In welcher Körperregion nehmen Sie die Einatmungsbewegung am stärksten wahr? Spüren Sie, wie sich dabei ihre Flanken anfühlen. Wie fühlt sich die Bauchdecke an? Geht der größte Druck von den Flanken oder von der Bauchdecke aus?
Was Sie soeben gespürt haben, war die Atemstütze. Sie ist also keine von irgendeinem Theoretiker ersonnene Technik, die man sich anlernen muß. Sie ist etwas, was wir alle schon (und noch) als Säuglinge angewandt haben. Säuglinge schreien manchmal eine halbe Stunde lang oder länger, was nur unter ökonomischem Einsatz der Kraftressourcen möglich ist. Die Aufgabenstellung ist daher jene, diesen physiologischen Vorgang bewusst zu machen, ihn bewusst herstellen zu können, um ihn dann wieder im Sinne des Selbstgewahrseins "gereinigt" ins Unterbewußt-Automatische zurückgleiten zu lassen.